Im Rahmen des Projekts COVID-19 Lessons Learnt wurden im Sommer 2021 fünf österreichische Landwirtschaftsbetriebe untersucht, um Best-Practices in der Beschäftigung von migrantischen Erntearbeitskräften zu identifizieren. Die qualitativen Interviews umfassten Gruppendiskussionen mit Saisoniers und Erntehelferinnen sowie Einzelgespräche mit Betriebsleiterinnen. Die Ergebnisse wurden später im Kontext der Theorie der Anerkennung von Axel Honneth und der Theorie der Resonanz von Hartmut Rosa analysiert. Die Ausgangshypothese lautete, dass dort, wo kaum Resonanzräume und wenige Möglichkeiten zur Selbstwirksamkeit vorhanden sind (Empathie, Anerkennung, Mitbestimmung), weniger intrinsische Motivation und Loyalität dem Betrieb gegenüber bestehen und sich dies schließlich negativ auf das ökonomische und soziale Betriebssystem auswirken kann.
Erntehelfer*innen und Saisoniers werden vorwiegend dann im landwirtschaftlichen Betrieb eingesetzt, wenn saisonale Arbeitsspitzen auftreten und wenig Mechanisierungsmöglichkeiten gegeben sind, d.h. vorwiegend im Gemüse- und Obstbau. Die Arbeit ist meist körperlich anstrengend und erfordert Konzentration, Routine und Erfahrung. Die Entlohnung erfolgt nach Kollektivverträgen, unterscheidet sich je nach Bundesland und beträgt zwischen 1.500 und 1.650 € brutto pro Monat. Zusätzliche Zahlungen kann es z.B. für Überstunden oder Akkordarbeit geben.
Betriebe, die ein ausgefeiltes System an Organisationsstrukturen und Verantwortlichkeiten entwickelt haben, zeichnen sich durch besonders gutes Arbeitsklima und Erfolg aus. Von elementarer Bedeutung sind dabei einerseits zentrale Saison-Arbeitskräfte, die als Mediatorinnen zwischen Betriebsleiterinnen und Beschäftigten agieren, zu beiden ein Vertrauensverhältnis pflegen, meist schon mehrere Jahre auf den Betrieb kommen, die Abläufe gut kennen und in Konfliktsituationen vermitteln. Eine stabile Stammbelegschaft ist von großem Vorteil, weil auch diese sich durch stärkere Motivation und Loyalität zum Betrieb und dessen Leiter*innen hervorhebt. Ausschlaggebend ist dabei häufig, dass die Personen ein hohes Maß an Verantwortung tragen, sich selbst einbringen und Entscheidungen treffen können und die Betriebsleitung ihnen dahingehend großes Vertrauen und Anerkennung entgegenbringt. Für die Organisation förderlich sind zudem Arbeitsgruppen, die familiäre oder freundschaftliche Verhältnisse untereinander pfle- gen und aus ähnlichen sozialen oder ethnischen Gruppen stammen. Dazu gehören außerdem Kontinuität der Belegschaft, Regelmäßigkeit und Planbarkeit der Arbeit.
Die Rekrutierung der Erntearbeitskräfte erfolgt häufig durch die zentralen Saison-Arbeitskräfte in deren Heimat mithilfe sozialer und regionaler Netzwerke. Viele kommen aus derselben Region, der Familie oder dem Freundeskreis. Dabei wird gleichzeitig für die Qualität der Beschäftigten gebürgt, da die Rekrutierenden gewissermaßen die Verantwortung übernehmen. In einzelnen Fällen agieren aber auch externe Akteurinnen als Vermittlerinnen, manchmal wird eine Provision verlangt. Herausforderungen ergeben sich zum einen aufgrund der Knappheit an migrantischen Arbeitskräften. Die Kontingente reichen nicht aus, der demographische Wandel führt zu einem Rückgang von Arbeitskräften, die schon viele Jahre lang als Erntearbeitskräfte tätig waren, und immer weniger Perso-nen aus dem EU-Ausland kommen wegen abnehmender komparativer Kostenvorteile nach Österreich. Die Kontingente für Drittstaatenangehörige werden nicht erhöht und es herrscht eine Konkurrenzsituation Österreichs mit anderen EU-Staaten, wel- che auf unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen in der Beschäftigung von Erntearbeitskräften zurückzuführen ist. Außerdem erschweren eine schwache Marktposition und Abhängigkeiten vom Großhandel die längerfristige Anbau- und Arbeitskräfteplanung. Dies betrifft oft sehr schnell gewachsene Betriebe, die noch nicht über eine stabile Stammbelegschaft verfügen, dadurch eher nur kurzfristig Ernte- arbeitskräfte anwerben können. Des Weiteren findet zwischen den österreichischen Bundesländern ein Wettbewerb um die knappen Kontingente für Saisoniers und Erntehelfer*innen statt. Im Nachteil sind hier insbe-sondere jene Bundesländer (z.B. Tirol, Oberösterreich), die aufgrund der geographischen Lage we- niger Kompensationsmöglichkeiten über EU-Staatsangehörige aus Südosteuropa (z.B. Bulgarien, Rumänien, Kroatien) lukrieren können.
Für die Unterbringung der Saisoniers und Erntehelfer*innen stellen die Betriebe meist Zimmer und Wohnungen in eigenen oder angemieteten Häusern zur Verfügung. Hier sind passende Wohnverhältnisse maßgeblich für die Attraktivität des Arbeitsplatzes. Die Verpflegung ist unterschiedlich organisiert, teils besteht ein System der Gemeinschaftsverpflegung, teils ist sie den Beschäftigten selbst, in eigenen Küchen überlassen. Dies bietet einerseits Vorteile der Zeitersparnis und des sozialen Austauschs, andererseits der Möglichkeit für Autonomie und Privatsphäre.
Während der COVID-19-Pandemie kam es in erster Linie zu Beginn des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 zu Problemen in den untersuchten Betrieben, weil einige Arbeitskräfte nicht nach Österreich einreisen konnten, weshalb Familie und Freunde der Betriebsleiterinnen einspringen mussten. Auf Betriebsebene gab es dagegen kaum Probleme, es traten nur wenige COVID-19-Fälle in den Betrieben auf, da zumeist ausreichende Vorkehrungsmaßnahmen getroffen wurden. Die Betriebsleiterinnen agierten trotz Unsicherheit darüber, wie mit der Situation umzugehen ist, oftmals proaktiv und stellten Testmöglichkeiten oder Quarantäne-Räume zur Verfügung.
Hinsichtlich der Motivation zur Tätigkeit als Saisoniers und Erntehelferinnen muss zwischen Asylwerberinnen, anerkannten Flüchtlingen bzw. subsidiär schutzberechtigten Personen, Personen aus Drittstaaten und Nicht-Drittstaaten, sowie arbeitslosen Personen unterschieden werden. Saisoniers kommen in vielen Fällen regelmäßig, für längere Zeit im Jahr und zeichnen sich durch ausgeprägte Verbundenheit und Loyalität zum Betrieb aus. Sie haben oft Erfahrung mit landwirtschaftlicher Praxis, sind in ihrer Heimat, aber auch in Österreich verwurzelt und werden manchmal zu ganzjährigen Arbeitskräften. Als negativ wird die lange Abwesenheit von der Heimat, der Familie und dem teilweise vorhandenen eigenen landwirtschaftlichen Kleinbetrieb gesehen. Erntehelferinnen sind dagegen nur einige Wochen im Betrieb beschäftigt und nutzen die Gelegenheit zur Aufbesserung ihrer Vermögenssituation während des Urlaubs, der Ferien bzw. freier Zeit. Die Verbundenheit mit dem Betrieb ist bei ihnen tendenziell geringer. Bei beiden Gruppen ist aber die ökonomische Motivation vordergründig, insbesondere aufgrund der Lohn- und Kaufkraftdisparitäten zwischen einzelnen Ländern. Asylwerberinnen entscheiden sich eher selten für die zeitlich befristete, landwirtschaftliche Tätigkeit, da diese meist keine längerfristige Perspektive bietet, nur von kurzer Dauer ist und die Tätigkeit wenig attraktiv erscheint. Letzteres trifft auch auf Arbeitskräfte mit freiem Arbeitsmarktzugang zu, wobei besonders die Schwere der Arbeit und die nicht vorhandenen Kauf- kraftvorteile ausschlaggebend sind. Ansätze des BMLRT, Freiwillige während der COVID-19-Pandemie in die Landwirtschaft zu vermitteln blieben erfolglos, da die beidseitigen Erwartungen nicht erfüllt wurden, erhoffte Resonanzräume nicht vorhanden waren und die Betriebe zuverlässige Arbeitskräfte für längere Frist benötigten.
Im internationalen Kontext der landwirtschaftlichen Produktion muss sich Österreich einem hohen Wettbewerbs- und Preisdruck stellen. Zusätzlich sind hierzulande die Sozialstandards im EU-Vergleich relativ hoch, was jedoch auch in höheren Lohnnebenkosten und damit geringeren Nettolöhnen für migrantische Arbeitskräfte resultiert. Entsprechend ist Österreich damit für kurzzeitig Arbeitssuchende aus dem Ausland weniger attraktiv. Dieser Effekt wird verstärkt u.a. durch Detailregelungen, wie z.B. die fehlende Anerkennung von Führerscheinen. Gefordert wird deshalb ein Anheben der Sozialstandards in der EU auf ein einheitliches Niveau und eine daran gekoppelte GAP-Reform der Fördermittelzahlungen im Sinne von Social Compliance.
Im Hinblick auf Resonanzräume und soziale Netzwerke der Saisoniers und Erntehelferinnen wurde festgestellt, dass die Arbeitskräfte außerhalb des Betriebs und der Arbeitszeit kaum Kontakt zur Nachbarschaft oder der Gemeinde haben. Meinungen der einheimischen Bevölkerung über die migrantischen Erntearbeitskräfte sind weniger von persönlichen Erfahrungen als von den Medien geprägt. Eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Resonanzräumen spielen die Betriebsleiterinnen, welche ein positives Verhältnis zu den Arbeitskräften pflegen. Extrovertiertheit, Weltoffenheit, Unternehmergeist und die Bereitschaft, soziale und ökologische Verantwortung zu übernehmen, waren Persönlichkeitsmerkmale, welche häufig bei den Führungspersonen beobachtet und als elementar gewertet wurden. Ein Umgang mit den Beschäftigten auf Augenhöhe, Wertschätzung und das Übertragen von Verantwortung führen zu Gefühlen der Selbstwirksamkeit und Selbstbestätigung, wirken motivierend und fördern den betrieblichen Erfolg. Durch die Selbständigkeit werden Kontrollmechanismen weniger notwendig. Je länger schließlich die Beziehung von Betriebsleiter*innen und Arbeitskräften besteht, d.h. je öfter letztere in den Betrieb kommen, umso enger ist das soziale Verhältnis.
Auf Betrieben mit scheinbar sehr gelungener Resonanz wurden von den interviewten Personen häufig Gefühle der Zusammengehörigkeit als „Familie“ oder „wie zuhause“ geäußert. Entscheidend für Loyalität und Verbundenheit zum Betrieb ist die Empathie der Betriebsleiterinnen für die Beschäftigten. Das Eingehen auf persönliche Situationen, Unterstützung bei Konflikten oder Problemen, Flexibilität und Entgegenkommen sind wichtige Faktoren zum Knüpfen und Festigen der Bindungen. Förderlich sind außerdem gegenseitiges Vertrauen, die Möglichkeit der Saisoniers und Erntehelferinnen, sich selbst einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig sind die Beziehungen der Arbeitskräfte untereinander, die sozialen Netze, welche Resonanz und Anerkennung entstehen lassen von großer Bedeutung. Obwohl die meisten Arbeitskräfte lieber auf Freizeit verzichten würden, um so viel wie möglich zu arbeiten und zu verdienen, ist diese ebenso wichtig für das Bilden sozialer Netzwerke, genau wie die Interaktion der Pro- duzentinnen mit den Konsumentinnen, z.B. bei Hoffesten. Insofern stellen ökonomische Faktoren den initialen Antrieb für die Arbeit als Saisonier oder Erntehelfer*in dar. Für die Entwicklung gelungener Reso- nanzräume sind sie von betrieblicher Seite jedoch eher hinderlich. Sparmaßnahmen und zu großer wirtschaftlicher Druck in Bezug auf die Beschäftigung der migrantischen Arbeitskräfte können sich extrem ne- gativ auf das Wohlbefinden, die Motivation, die sozialen Beziehungen und letztlich auf den betrieblichen Erfolg auswirken.