Werner Pevetz
Die ländliche Sozialforschung hat sich in Österreich besonders in ihrer empirischen Ausprägung relativ spät entwickelt. Erst in den letzten 10-15 Jahren ist man hier über die philosophisch-ideologische und die sozialstatistische Phase der ländlichen Sozialforschung hinausgekommen. Dieser relative Rückstand hat verschiedene Ursachen; eine davon ist gewiß die, daß der soziale Wandel, der Umbruch der Lebens- und Gesellschaftsverhältnisse in unserem Land im allgemeinen doch wesentlich später einsetzte als etwa in den USA, in Großbritannien oder in der Bundesrepublik Deutschland.
Der Begriff der "ländlichen Sozialforschung" (rural social research) ist weiter gefaßt als jener der ländlichen "Soziologie" (rural sociology): während letztere bei aller Vielfalt ihrer Interessengebiete heute doch vor allem den Mechanismen des sozialen Wandels nachspürt, ist die Sozialforschung wesentlich stärker aufgefächert und reicht von der Sozialökonomik und Sozialstatistik bis zu Fragen des Gesundheitswesens und der Wohlfahrtspflege, der räumlichen und beruflichen Mobilität, des Arbeitsmarktes, des ländlichen Fremdenverkehrs usw., schließt also demographische Fragen und statistische Untersuchungen von Wanderungsbewegungen ebenso ein wie die spezifisch soziologischen Themenbereiche.
Vor 10 Jahren wurde vom Agrarwirtschaftlichen Institut (heute: Bundesanstalt für Agrarwirtschaft) die 1. Ausgabe eines Berichtes über Stand und Entwicklungstendenzen der ländlichen Sozialforschung in Österreich für den Zeitraum 1960-1972 veröffentlicht. In den Jahren seither hat sich die damals im Vergleich zu manchen anderen westlichen Ländern in Österreich noch wenig entfaltete empirische ländliche Sozialforschung allerdings kräftig entwickelt: Erhebungen über zentrale Themenbereiche wie Landjugend, Landfrauen, Nebenerwerbsbauern usw. sind inzwischen - z.T. sogar mehrfach - auch in Österreich durchgeführt worden, und mit der 1983 veröffentlichten Altbauernbefragung hat unser Land sogar eine gewisse Pionierleistung erbracht. Dieser erfreuliche Aufschwung ist in erster Linie der Tätigkeit einer begrenzten Zahl von Personen und Institutionen zu danken, die sich überwiegend nur nebenbei bzw. neben vielen anderen Aufgaben mit ländlicher Sozialforschung befassen. Insbesondere haben Raumforschungsinstitutionen aller Art eine rasch wachsende Zahl empirischer Beiträge zu verschiedenen Aspekten der räumlich-regionalen Problematik unter Mitberücksichtigung sozialer Komponenten geleistet.
Sehr unausgewogen ist die Situation weiterhin im Bereich der universitären Sozialforschung. Die soziologischen Universitätsinstitute haben ihre Forschungsschwerpunkte weiterhin entweder in der städtischen Soziologie oder in allgemein problemorientierten Themen; nur sehr selten und fast "zufällig" stoßen sie dabei auf den ländlichen Raum, doch interessieren dabei meist nicht die ländlichen Sozialverhältnisse als solche, sondern es werden allgemeine Theoreme an einem ländlichen Beispiel getestet. Überraschenderweise haben sich demgegenüber Sozialhistoriker und Politologen in den letzten 10 Jahren verstärkt auch für ländlich-bäuerliche Themen interessiert. Besondere Beachtung verdient das starke Interesse der "neuen", sozialwissenschaftlich ausgerichteten Volkskunde (Sozialethnologie) am sozialen Wandel im ländlichen Gemeinwesen; dieser Richtung verdanken wir eine Reihe aufschlußreicher neuerer Arbeiten über ländlich-bäuerliche Lebensformen, Wohn- und Ernährungsverhältnisse und veränderte Sozialbeziehungen.
Den quantitativ bedeutsamsten Beitrag zur empirischen ländlichen Sozialforschung auf universitärer Ebene leisten jedoch weiterhin die Kultur- und Sozialgeographen, wobei Innsbruck, Wien und Salzburg besonders hervortreten. vor allem der Tiroler Raum wurde geradezu flächendeckend kleinregional unter den verschiedensten Gesichtspunkten untersucht, während in anderen Bundesländern noch erhebliche Lücken bestehen. An der völligen Abstinenz der Universität für Bodenkultur auf dem Gebiet der ländlichen Sozialforschung - die Landsoziologie ist dort lediglich in Form eines Lehrauftrages (bzw. als Freifach) vertreten, der von einem Dozenten der Wiener Universität wahrgenommen wird - hat sich seit Erscheinen unseres ersten Situationsberichtes leider nichts geändert.
Aus dieser Struktur der Forschungseinrichtungen und -interessen ergibt sich eine entsprechend vielfältige, allerdings recht ungleichgewichtige Struktur der Forschungsthemen. Abgesehen von rein sozialstatistischen Materialsammlungen (heute allerdings mehr und mehr angereichert durch Mikrozensus-Ergebnisse) stehen Mobilitätsuntersuchungen, insbesondere Arbeiten über die Pendelwanderung, Untersuchungen der Nebenerwerbslandwirtschaft sowie Regionalanalysen mit mehr oder minder gewichtigem sozialwissenschaftlichem Gehalt quantitativ im Vordergrund; in dieser Beziehung hat sich in den letzten 10-15 Jahren nicht allzuviel geändert. Äußerst rar sind weiterhin soziologisch vertiefte Dorfuntersuchungen. In Ansätzen feststellbar sind dagegen empirische Studien über die soziologischen Voraussetzungen regionaler Entwicklungspolitik, insbesondere in ländlichen Problemgebieten; Anlaß hiezu bot eine gewisse Verlagerung des Schwergewichtes regionaler Entwicklungsförderung auf "endogene" Ansätze. Über die im Wandel befindlichen Stadt-Land-Beziehungen, insbesondere auch über die neue "Stadtflucht", wie überhaupt über die Auswirkungen der Dienstleistungs- und "Freizeit"-Gesellschaft auf den ländlichen Raum bestehen erst wenige sozialwissenschaftlich oder gar sozialpsychologisch vertiefte Untersuchungen. Dennoch hat der Anteil von im strengen Sinne soziologischen Untersuchungen zugenommen. Bemerkenswert ist ferner die Tendenz, immer mehr sozialwissenschaftliche Arbeiten durch empirische Erhebungen zu fundieren.
Trotz gewisser Übereinstimmungen mit dem vor 10 Jahren vorgelegten ersten Bericht weicht die inhaltliche Gliederung der vorliegenden 2. Ausgabe deutlich von jener der 1. Ausgabe ab: darin spiegelt sich die thematische Ausweitung und Differenzierung der ländlichen Sozialforschung in Österreich. So mußten - um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen - Abschnitte über sozialhistorische Untersuchungen, über ethnische Minderheiten, über "Sozial-Ökologie" sowie über den sich zunehmend differenzierenden Bereich der Stadt-Land-Beziehungen, über Zweitwohnsitze, soziale Aspekte der Umweltgestaltung usw. neu aufgenommen werden. Andere Abschnitte haben ihre inhaltliche Struktur deutlich verändert. "Graue" Literatur überwiegt bei weitem.
In thematischer Hinsicht konnten die meisten Titel (insgesamt 89) im Abschnitt "Bergbauerntum, Berggebiete" nachgewiesen werden, unmittelbar darauf folgt der Abschnitt "Soziale Aspekte der ländlichen Raumforschung; Entwicklungs- und Problemgebiete" mit 87 Titeln, ein Hinweis auf die große Bedeutung der Raumforscher und Sozialgeographen für die ländliche Sozialforschung in Österreich. Auch die Abschnitte "Soziale Aspekte der Landes- und Ortsbildpflege", "Sozialstatistische Grundlagen" sowie "Fremdenverkehr und Erholungswesen" sind mit überdurchschnittlich vielen Titeln vertreten. Was die Verteilung der regional zuzuordnenden Untersuchungen auf die einzelnen Bundesländer anlangt, steht Tirol mit 96 Veröffentlichungen - davon 26 das Bergbauerntum und einzelne Bergregionen betreffend - deutlich an der Spitze, eine Folge vor allem der bereits erwähnten systematischen Forschungstätigkeit des Innsbrucker Geographischen Instituts. An zweiter Stelle folgt Niederösterreich mit 71 Veröffentlichungen, davon die bedeutendste Einzelgruppe über Entwicklungs- und Problemgebiete. An dritter Stelle steht Oberösterreich mit 41 einschlägigen Publikationen. Für die Steiermark konnten dagegen nur 20 Arbeiten nachgewiesen werden (sie stammen noch dazu überwiegend nicht aus diesem Bundesland selbst), für dieses große, vielfältige Land ein enttäuschendes Ergebnis.
Der vorliegende Bericht umfaßt im wesentlichen den Zeitraum von 1972-1982, mit einigen Rückblendungen und Vorgriffen. Inhaltlich bringt der Bericht Arbeiten über Österreich und Südtirol, allerdings nicht nur Veröffentlichungen aus diesem geographischen Raum selbst; wie bereits in der 1. Ausgabe hielten wir es wiederum für richtig, auch ausländische Arbeiten zu berücksichtigen.
"Entwicklungstendenzen" der Forschung im speziellen Bezug zu ländlichen Sozialfragen konnten nur in wenigen Fällen, und auch dort meist nur in Gestalt angelaufener Projekte, festgestellt werden. Dies hängt wohl in erster Linie damit zusammen, daß sich praktisch keine einzige Forschungsinstitution ausdrücklich und schwerpunktmäßig mit ländlicher Sozialforschung befaßt. Wenn von einem sich abzeichnenden Forschungsschwerpunkt gesprochen werden kann, so am ehesten von einer sozialwissenschaftlichen Vertiefung entwicklungsbezogener Regionalanalysen hinsichtlich Mobilitätsverhalten und -bereitschaft, allgemeiner Motivation und Motivierbarkeit, Zukunftserwartungen usw., aber auch hinsichtlich bestehender Machtstrukturen und - zum Teil daraus fließender - spezifischer existentieller Benachteiligungen. Was Planck für die BRD festgestellt hat*, gilt mutatis mutandis auch für Österreich: Forschungslücken bestehen hinsichtlich der ländlichen Bedarfsstruktur und des Verbrauchsverhaltens, der Soziologie der Planung (und damit implizit auch der Partizipation) sowie ganz allgemein in der ländlichen Motiv- und Verhaltensforschung. Auch die immer komplexer werdenden Stadt-Land-Beziehungen sind - wenn überhaupt - völlig unzulänglich erforscht, und von den tieferen Einflüssen des Fremdenverkehrs auf Einstellungen und Verhaltensweisen der ländlichen Menschen künden nur sporadische Einzeluntersuchungen, die kaum zu verallgemeinernde Einsichten in diesen weiten Problemkreis vermitteln. Trotz mancher beachtlicher Fortschritte steht also die ländliche Sozialforschung in Österreich in vieler Beziehung noch am Anfang: ein weites Tätigkeitsfeld liegt noch vor ihr.