Ausgewählte Ergebnisse des EU-Projektes TOP-MARD
Seit vielen Jahren werden der Landwirtschaft eine Reihe von Aufgaben zugeschrieben, die weit über die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen und die unmittelbare Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse hinausgehen. Teile der agrarpolitischen Maßnahmen werden daher auch mit dem Hinweis auf die Multifunktionalität der Landwirtschaft begründet. Mit der Entwicklung integrierter Politikkonzepte ist diese Sichtweise erheblich verstärkt worden und hat insbesondere in die Diskussion der ländlichen Entwicklungspolitik Eingang gefunden.
Die Diskussion der Multifunktionalität ist vor allem von jenen Ländern ausgegangen, welche seit Jahrzehnten ihre agrarpolitischen Bemühungen zur Sicherung kleinbäuerlicher Strukturen und der Aufrechterhaltung der Landwirtschaft in peripheren Gebieten verstärkt haben. Neben der Schweiz und Norwegen sowie Japan zählte insbesondere auch Österreich zu den Vorreitern der Diskussion dieses Konzeptes.
Bezüglich der Diskussion der Multifunktionalität der Berglandwirtschaft kommt dem Protokoll Berglandwirtschaft des internationalen Vertragswerks Alpenkonvention eine Vorreiterrolle zu. Dieses 1994 verhandelte Protokoll (Alpenkonvention 1994) wurde von Österreich im Jahr 2000 unterzeichnet und 2002 ratifiziert. Darin sind die vielfältigen Leistungen der Berglandwirtschaft für die Gesellschaft beschrieben und Forderungen an die Politik für ihre Erhaltung und Verbesserung - insbesondere für die umweltrelevanten Leistungen - aufgestellt worden (Ständiges Sekretariat 2010, S. 75 ff). Die enge Verknüpfung mit der regional differenzierten Ausrichtung landwirtschaftlicher Produktionssysteme und der in Berggebieten erhöhten Sensibilität bezüglich der Leistungen für die Umwelt, Gesellschaft und Regionalentwicklung ist nicht zufällig auf Gebiete mit landwirtschaftlichen Produktionserschwernissen konzentriert (Dax und Hovorka 2010, S. 8).
Aber auch auf globaler Ebene wird die Wirkungsweise unterschiedlicher Landwirtschaftssysteme als Grundlage für die Erbringung von Leistungen für die Gesellschaft immer stärker diskutiert. So hat sich der Weltagrarrat massiv gegen die internationale Entwicklung in Richtung industrielle Landwirtschaft mit Intensivanbau in Monokulturen, Ausräumung der Landschaften und Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen ausgesprochen. Der Agrarrat fordert das Ziel der Ernährungssouveränität ein, sowie die Umstellung auf eine multifunktionale Landwirtschaft, die den Erhalt und die Erneuerung von Wasser, Böden, Wälder und Artenvielfalt in den Mittelpunkt der Agrarpolitik rückt (IAASTD 2008a und 2008b; Dax und Hovorka 2010, S. 8).
Vor einigen Jahren hat die Europäische Kommission verstärkt Forschungsarbeiten zu dieser Sichtweise der Agrarpolitik in Auftrag gegeben und damit beabsichtigt, die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Konzeptes der Multifunktionalität zu vertiefen. Die Bundesanstalt für Bergbauernfragen hat an einigen der diesbezüglichen Projekte aus den EU-Rahmenprogrammen teilgenommen. Mit einem großen Netzwerk von Partnern war dieses Bemühen insbesondere in zwei Projekten erfolgreich:
- EUROLAN (Strengthening the Multifunctional Use of European Land: Coping with Marginalisation; 2003 - 2006)1
- TOP-MARD (Towards a Policy Model of Multifunctionality and Rural Development; deutscher Titel: Entwicklung eines Analyseansatzes und Politik-Modells zur Multifunktionalität der Landwirtschaft und des ländlichen Raumes; 2005 - 2008)
Die spezifische Aufgabe für die österreichische Beteiligung an diesen Forschungsvorhaben bestand darin, Fallbeispiele aus dem Berggebiet Österreichs in den internationalen Vergleich einzubringen und die Relevanz des Konzepts in diesen Regionen hervorzuheben.
Das Hauptziel des Projektes TOP-MARD bestand darin, das Konzept der Multifunktionalität als Instrument der ländlichen Entwicklungspolitik zu nutzen und weiterzuentwickeln und die ökonomischen, sozialen, kulturellen, ökologischen und geographischen Auswirkungen der Multifunktionalität zu untersuchen. Es ging darum, die Kenntnis darüber zu verbessern, wie sich die verschiedenen Funktionen des Agrarsektors in unterschiedlichen Regionen auf die wirtschaftliche Entwicklung und auf die Lebensqualität in diesen Regionen auswirken und wie diese Funktionen durch unterschiedliche Politik- und Fördermodelle beeinflusst werden. Die Ergebnisse sollten auch den politischen Entscheidungsträgern auf EU-Ebene und den Dienststellen der EU-Kommission als Entscheidungshilfe zur Verfügung gestellt werden. Dieser Anspruch bestand prinzipiell auch für die Entscheidungsträger und die Verwaltung in den Studienregionen und den Mitgliedstaaten. Im Rahmen des Projektes wurden Untersuchungen in elf Studienregionen durchgeführt. Für Österreich wurde die Bergregion Pinzgau-Pongau (NUTS 3 Code AT 322) im Bundesland Salzburg als Beispiel einer typischen Berggebietsregion ausgewählt.
Im Rahmen des Projektes wurden zahlreiche wissenschaftliche Instrumente eingesetzt, die insbesondere zur vertieften Analyse der Wechselwirkungen im Kontext der Multifunktionalität konzipiert wurden. Dazu zählen insbesondere die Erfassung bereits vorliegender Untersuchungen anhand umfangreicher Analyse von Sekundärliteratur zur Erklärung der Wirkungszusammenhänge, die Durchführung von Workshops in den Studienregionen zur Dokumentation der Relevanz und des Bewusstseins bezüglich der Multifunktionalität in den Studienregionen, eine Serie von standardisierten Fragebögen zur gezielten Erfassung der regionalen Bedeutung unterschiedlicher Aspekte der Multifunktionalität und die Erstellung von regionalen Input-Output Matrizen als Grundlage für die Konzeption der Wechselwirkungen beim Modellaufbau. Politische Entscheidungsträger und FachexpertInnen vor Ort und auf nationaler Ebene wurden durch explorative Gespräche und bei der Präsentation der Ergebnisse eingebunden. Für die komplexe Projektstruktur waren auch einige Projektworkshops in den Teilnehmerländern zur Abstimmung der Behandlung der Forschungsfragen erforderlich. Ein Schwerpunkt dieser Abstimmungsarbeiten betraf die Entwicklung des dynamischen Modells POMMARD, das aufbauend auf einem gemeinsamen Basismodell für alle elf Studienregionen angewendet wurde. Entsprechend der politischen Relevanz wurden die Ergebnisse der Studie bei der EU-Kommission unter Teilnahme nationaler ExpertInnen und VertreterInnen der Regionen in einer Abschlusskonferenz in Brüssel präsentiert. Im Rahmen des Projektes wurden zahlreiche Zwischenergebnisse auf internationalen Konferenzen präsentiert und in wissenschaftlichen Beiträgen veröffentlicht. Auch die österreichische Fallstudie wurde auf mehreren internationalen Konferenzen vorgestellt und in zahlreichen Publikationen der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht (z.B. Bergmann et. al. 2007 und 2011; Bergmann and Thomson 2008; Dax et. al. 2009; Dax and Hovorka 2010). Zusätzlich zum Abschlussbericht ist eine Buchpublikation (Verlag Routledge) im Jahr 2011 erschienen (Bryden et al. 2011a). Da es zum Projekt bisher keine zusammenfassende deutschsprachige Veröffentlichung gibt, soll mit dieser Publikation ein Überblick über ausgewählte Projektergebnisse gegeben werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Präsentation der österreichischen Fallstudie Pinzgau-Pongau und dabei insbesondere auf Schlussfolgerungen aus den Befragungen im Untersuchungsgebiet, da diese in den englischsprachigen Veröffentlichungen weniger ausführlich behandelt wurden. Darüber hinaus wird in diesem Bericht eine Verbindung mit den aktuellen Entwicklungen in der Agrarpolitik hinsichtlich der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik ab 2014 hergestellt.
Das Thema der Multifunktionalität der Landwirtschaft hat zwar in den letzten Jahren in der wissenschaftlichen Bearbeitung etwas nachgelassen, findet sich aber noch immer an zentraler Stelle vieler Diskussionen hinsichtlich der Entwicklung der Agrarpolitik und ihrer Verknüpfung mit Fragen der ländlichen Entwicklung. Das Netzwerk Land LE07-13 hat mit einem Schwerpunktheft die vielfältigen Aspekte der Multifunktionalität für die ländliche Entwicklung beleuchtet (Netzwerk Land 2010). Auch wenn der Begriff nunmehr in der europäischen Agrarpolitik weit verbreitet ist, sind viele Fragestellungen der Bewertung multifunktionaler Leistungen und der Zuordnung von spezifischen Leistungen zu unterschiedlichen Bewirtschaftungsmethoden im internationalen Rahmen noch nicht ausreichend geklärt. In der kürzlich durchgeführten Ausschreibung des ERA-Nets RURAGRI („Facing sustainability: new relationships between rural areas and agriculture in Europe") wurde daher in spezifischen Fragestellungen auf dieses Thema eingegangen (RURAGRI 2012). Im Forschungsschwerpunkt zur Untersuchung von Fragen der Landnutzung wird explizit auf die Untersuchung der Multifunktionalität der Landwirtschaft und ihren Beitrag zur Diversifizierung der Wirtschaft ländlicher Regionen eingegangen. Dies ist nur ein Beispiel unter vielen, die auf die Aktualität und hohe Relevanz der Multifunktionalität in der gegenwärtigen Diskussion der Agrarpolitik verweisen.