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SR082: Die Multifunktionalität der österreichischen Land- und Forstwirtschaft

Werner Pevetz

Die ökosoziale Agrarpolitik ruht auf den drei Grundsätzen der Nachhaltigkeit, der flächendeckenden Bewirtschaftung und der Multifunktionalität. Diese drei Bereiche hat sich auch das Forschungsprogramm der Bundesanstalt für Agrarwirtschaft angenommen. Nachdem in den beiden vergangenen Jahren die Nachhaltigkeit und die Flächendeckung untersucht worden waren, wird nun gleichsam als Abschluß dieser "Trilogie" diese Arbeit über die Multifunktionalität vorgelegt.

Als "Funktionen" werden in diesem Zusammenhang Leistungsbeiträge zu gesellschaftlichen Zielen verstanden; sie können wirtschaftlicher oder überwirtschaftlicher Art sein, Produktions- oder Dienstleistungscharakter tragen. Grundsätzlich sind sämtliche Funktionen der Land- und Forstwirtschaft - die letztere wird in diese Untersuchung voll einbezogen - untereinander gleichwertig; allerdings ist ihr relatives Gewicht in Abhängigkeit vom jeweiligen Standort unterschiedlich.- Die einzelnen Funktionen können aneinander gekoppelt oder mehr oder minder losgelöst voneinander auftreten, wobei in letzter Zeit eine gewisse Entkoppelungstendenz bemerkbar wird, die nicht unproblematisch ist. Im Prinzip impliziert jede Funktion einen Einkommensanspruch, denn ohne Einkommenswirksamkeit ist die Funktionserfüllung gefährdet. Manche Funktionen "ergeben" sich mehr oder minder zwangsläufig aus der land- und forstwirtschaftlichen Tätigkeit, andere müssen direkt angestrebt werden. Manche Funktionen bilden per se eine wirtschaftliche Gewinnchance für die Land- und Forstwirte, andere bedeuten zunächst Erschwernisse und verursachen insofern ökonomische Verluste.

Die Erzeugungsfunktion (Nahrungs- und Futtermittel, Rohstoffe und Energieträger) ist zwar nur eine unter vielen Funktionen und auch nicht an jedem Standort die wichtigste; doch nimmt sie insofern eine Sonderstellung ein, als losgelöst von ihr die übrigen Funktionen "in der Luft hängen". Landbewirtschaftung ist zwar wesentlich mehr als Agrarproduktion, aber ohne Agrarproduktion ist sie allenfalls auf Golfplätzen und Schipisten aufrechtzuerhalten.

Angesichts der Sackgassen, in die uns eindimensionales, spezialistisches Denken und Handeln im wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereich hineinmanövriert haben, stellt heute ein ganzheitliches, "vernetztes" Denken keinen philosophischen Luxus dar, sondern eine schlichte gesamtgesellschaftliche Überlebensvoraussetzung mit direkten Konsequenzen für die praktische Politik.

In besonderem Maße gilt dies für die Land- und Forstwirtschaft, die auch in hochentwickelten Industrieländern weiterhin die flächenhaft dominierenden Wirtschafts- und Raumnutzungsaktivitäten darstellen und ländliche Räume auch dann in vielfältiger Weise prägen, wenn der Beitrag der biologisch gebundenen "Urproduktion" zu Beschäftigung und regionaler Wirtschaftsleistung nach der herkömmlichen ökonomischen Bemessungsweise gering ist und weiterhin zurückgeht.

Dies hat bisher allerdings wenig daran geändert, daß die gesellschaftliche Bedeutung der Land- und Forstwirtschaft im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) immer noch ausschließlich am Geldwert ihres Produktionsertrages, ihrer sog. Wertschöpfung, gemessen wird: Da die bisherige VGR weder positive und negative externe Effekte noch außerökonomische Vernetzungen zu berücksichtigen vermag, überhaupt (zwangsläufig?) rein monetaristisch (geldbezogen) angelegt ist, schließlich für die "öffentlichen" (preislosen) Güter überhaupt kein VGR-kompatibler Bewertungsmaßstab besteht, beschränkt sich die Bewertung des volkswirtschaftlichen - und damit implizit auch des gesamtgesellschaftlichen - Leistungsbeitrages der Land- und Forstwirtschaft auf deren mit den jeweiligen Marktpreisen monetarisierte Warenproduktion. Erst die Weiterentwicklung der bisherigen VGR-Methodik durch das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) könnte hierin allmählich Wandel schaffen.

Wir bezeichnen die Leistungsbeiträge einer wie immer gearteten und organisierten Aktivität zur Erfüllung von gesellschaftlichen Zielen als "Funktion". Eine umfassende Erkenntnis und Würdigung aller in unserer Gesellschaft erbrachten Leistungsbeiträge, von der Staatsoper bis zum Bergbauernbetrieb, hat dementsprechend eine ganzheitliche Bestimmung der gesellschaftlichen Bedürfnisse und Ziele zur Voraussetzung. Diese Bedürfnisse differenzieren sich und verschieben ihre Gewichte in dem Maße, als eine Gesellschaft sich differenziert, wohlhabender wird und mit zunehmender Sättigung von einfachen Grundbedürfnissen diese selbst sich in qualitativ anspruchsvollerer Weise zu Wort melden, bisher marginale Bedürfnisse stärker hervortreten und sogar völlig neuartige Bedürfnisse auftreten: Nicht mehr "Nahrung" schlechthin wird gefordert, sonder ökologisch erzeugte Nahrungsmittel, deren Herstellung auch ethischen Ansprüchen genügt; "Erholung und Freizeit" werden zu verselbständigten wirtschaftlichen Wachstumsbereichen mit enormen Auswirkungen auf Gesellschaft, Raum und Umwelt; Tierschutz wird zu einem Anliegen, für das Menschen auf die Barrikaden gehen; Wälder sollen nicht mehr bewirtschaftet, sonder in "neue Wildnisse" zurückverwandelt werden; usw.

Aus all dem ergeben sich z.T. massiv veränderte Wertungen und Ansprüche in bezug auf die Land- und Forstwirtschaft und den von ihr in Besitz und mehr oder minder intensiver Nutzung gehaltenen Raum, der in Österreich immerhin rund 80 % des gesamten Staatsgebietes umfaßt. Österreich stellt sich im OECD-Vergleich als noch stark ländlich geprägtes Land dar. Gemessen am allerdings sehr eindimensionalen Merkmal der Besiedlungsdichte entfallen bei uns 71 % der Staatsfläche mit 40 % der Bevölkerung auf "überwiegend ländliche", weitere 28 bzw. 39 % auf "ziemlich ländliche" Gebiete, insgesamt demnach 99 % der Fläche mit 78 % der Bevölkerung auf den "ländlichen" Raum im weiteren Sinne - somit also auf Regionen, die durch eine jedenfalls 50 % überschreitende land- und forstwirtschaftliche Flächennutzung gekennzeichnet sind. In Deutschland erreichen die betreffenden Anteile dagegen nur 58 % bzw. 34 %, in der Schweiz 83 % bzw. 59 %.

Die Land- und Forstwirtschaft in ihrer vielschichtigen räumlich-regionalen, ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit erscheint ihrem Wesen nach "multi-funktional", d.h. man muß sie nicht erst dazu erklären: Erzeugungsfunktion und Raum-funktion, letztere wiederum gegliedert in eine regionalökonomische und eine ökologische Teilfunktion, sind immer und überall gemeinsam mit der landwirtschaftlichen Tätigkeit auftretende Gegebenheiten. Die Frage lautet daher nicht, ob Land- und Forstwirtschaft mehrere Funktionen habe oder nicht, sondern ob bzw. inwiefern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen agrarischer Tätigkeit, insbesondere die sich direkt oder indirekt ihrer Gestaltung widmende Politik, diese Multifunktionalität wahrnimmt und anerkennt, sie im positiven Sinne zu entwickeln sucht - oder eben nicht. In letzterem Falle wäre allerdings mit sozialen und ökologischen Kosten zu rechnen, deren Ausmaß erst in dem Maße offenbar würde, als die Multifunktionalität tatsächlich verlorengeht, was in Österreich dem Rückzug der Land- und Forstwirtschaft aus großen Teilen des nationalen Raumes gleichkäme. Die bessere Alternative besteht darin, die Landwirtschaft als vielseitigen, multifunktionalen Leistungsträger in Wert zu setzen. Hiezu bieten sich in besonderem Maße kleinregionale, integrative Lösungen an.

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